Die Hände

Im Schein der Sonne, im Lampenlicht, bei der flackernden Flamme des Ofens, starre ich immer wieder auf meine Hände und bilde mir ein, dass meine Finger immer länger werden, wie die Krallen einer Hexe.
Die Falten an den Fingergelenken öffnen sich wie tiefe und finstere Gräber.
Die Adern meiner Handoberfläche wölben sich zu den festen Seilen der Galgen und meine Fingernägel wachsen immer weiter. In diesem Moment umschlingen meine Hände mit großem Druck meinen Hals. Mein Atem bleibt mir in der Kehle stecken und ich gebe Töne von mir wie ein gewürgter Hahn. In dieser Situation kommen die anderen mir zur Hilfe, reißen mir meine Hände von meinem Hals und sagen mit leiser Stimme: „Die Arme ist verrückt geworden.“

In Zeiten, in dem wir beim Essen sitzen und ich die Reiskörner zu einem Bissen zusammenbringe und diese zu meinem Mund führe, nehmen die weißen Reiskörner für mich eine graue Farbe an und dünne Adern umschlingen die Körner. Darauf hin schreie ich entsetzt auf. Weinend laufe ich aus dem Zimmer und die anderen sagen: „Die Arme ist verrückt geworden.“

Wenn ich die Wäsche wasche, bilden sich im Becken runde Seifenbläschen. Die Bläschen werden lebendig und langsam bilden sie sich zu blutdurchflossenen Adern. Schnell schließe ich meine Augen und lehne meinen Kopf an die Hofmauer und weine. Wieder sagen die anderen: „Die Arme ist verrückt geworden.“

Aber diese Verrückten wissen nicht, dass ich völlig bei Sinnen bin.
Nur sind es meine Hände, die mich nicht in Ruhe lassen. Nur sind es meine Finger, die mich in jeder Situation durcheinander bringen.
Ich hasse nur meine Hände, mit denen ich am Tag des Vorfalls die kleinen weißen und grauen Stücke des Gehirns meiner Tochter von dem eisernen Tor des Hofes sammelte. Die Gehirnstücke waren noch warm und auf ihnen waren Netze von roten und blauen Adern zu sehen. Ich schaute sie an und meine Augen erstarrten. Mit verzweifelten Augen fragte ich sie: “ Meine Moruarid, meine Perle! Was hast du hier drin versteckt? Was hast du in den 4 Jahren deines verlorenen Lebens hier gespeichert?“ Die Gehirnstücke zogen sich zusammen und wurden kühl. Da erst habe ich verstanden, dass ihr Gehirn in den Zeiten des Krieges nichts außer Missgunst und Hass annehmen konnte.
Ich legte die Gehirnstücke mit diesen gefühllosen Fingern in einer Wanne,
ja mit diesen kalten Händen.
Danach war ich an den Baumästen beschäftigt, und sammelte dort mit diesen Händen Stück für Stück ihr Körperfleisch. Ihr Fleisch war fein wie die Waden.
Ich nahm alle Fleischstücke, damit sie nicht den Aasfressern als Nahrung dienen.
Im Leichentuch ihres ganzen Körpers war nicht mehr als ein oder zwei Kilo Fleisch und Knochen zusammengekommen, als ob der Rest von der menschenfressenden Rakete verschlungen wurde.
Nach zwei Tagen fand ich im Hof zwischen den Gräsern ein härteres Fleischstück, gleich auf dem ersten Blick erkannte ich es. Genau, das war ein Stück ihres nicht erfüllten Herzens, welches mir ein Lied des Abschieds sang. Ich fühlte es, als sei es noch warm. Durch dieses Herz sah ich noch einmal meine getötete Kleine, ihre dunklen Augen blickten mich sehnsuchtsvoll an, und begannen mit mir zu sprechen. Ich lag auf dem Gras, nahm sie sicher auf die Fingerkuppe, gab ihr warme Küsse auf die Wange, streichelte ihre schwarz gelockten Haare und übergoss ihren zierlichen Körper mit meinen heißen Tränen. Ich fragte sie: „Sag mir, was ist in dir versteckt?“, doch sie murmelte nur undeutlich, als ob in ihr kein weiteres Verlangen sprudelte. Nochmals küsste ich es. Leise flüsterte ich ihr ins Ohr: “ Ich will dich nicht weggeben, ich will dich bei mir behalten. An meinem Herzen nähe ich eine Tasche und dort verstecke ich dich weit vor den Augen der anderen. Ich lasse es nicht zu, dass sie auch dich in die schwarze Erde begraben und Ameisen deine Qualen noch mehr erhöhen.
Doch leider haben mich diese anderen nicht gelassen. Von meinen Fingern raubten sie mir das letzte Zurückbleiben meines lieben Kindes und nahmen es mit sich.
Nun verbleibe ich mit meinen leeren Händen, mit den Händen, mit denen ich die Leichen der Tausenden von Zellen meiner Tochter der feuchten Erde übergeben habe.
Ich verabscheue diese Hände. Diese Hände sind die Sprecher der zumeist schmerzenden Erinnerung meines Lebens. Mir graut es vor ihnen.
Wenn ich meine Hände anschaue, tanzen vor meinen Augen die Hände des Bombenwerfers, welche hunderte Mütter aufgrund der Trauer um ihre Kinder der Welt entfremdeten. Da frage ich mich selber, ob er nicht auch seine Hände hasst? Ob er, wenn er seine Bissen mit diesen Händen zum Mund führt, nicht den Gestank von Blut riecht??? Und was ist mit den  Gefühlen der Menschen, die diese Bomben und solche Flugzeuge produzieren???

Geschrieben  im Jahr 2001, auf  Grund einer realen Geschehens  in  der Zeit vom Bürgerkrieg 1993 in Kabul.